"Ich kann mich ja nicht outen, denn ich habe einen Job, da sitzen nur intolerante Menschen oder
welche, die das nicht verstehen können." - "Alte Menschen sitzen ja den ganzen Tag
hinter dem Fernsehen. Wenn die mich da im Outfit sehen, dann muß ich mich einer Diskussion
stellen, die ich nicht möchte. Die verstehen das ja sowieso nicht." - "Mit meiner
Mutter kann ich da ganz sicher nicht darüber sprechen. Die ist bigott und regt sich schon
darüber auf, wenn ich mit gefärbten Haaren komme."
Diese Formulierungen und Aussagen lassen sich endlos lange fortsetzen. Zum Teil treffen sie auf unsere
Altvordern ganz sicher zu, zum Teil auch nicht. So mancher von uns hat schon seine positiven
Überraschung mit einem Outing vor alten Menschen, den Eltern oder den Großeltern erlebt
und bei manchen ist es tatsächlich fürchterlich in die Hosen gegangen.
Die Generation der heute 60-jährigen und älter ist in einer Zeit aufgewachsen, die vom
Wiederaufbau nach dem 2. Weltkrieg geprägt war. Dieser Wiederaufbau war nur zu schaffen, in dem
die Bedürfnisse des Einzelnen uniformiert wurden und zu jeder Zeit den Pflichten gegenüber
dem Staat, der Gruppe, der Familie, der Firma untergeordnet wurde. Es ging um Pflichterfüllung,
arm aber reinlich..., ...den Kindern eine besser Zukunft schaffen, damit sie es einmal leichter haben
als wir! Sie haben ihr Leben lang zur Kenntnis nehmen müssen, daß Individualität
nicht gefragt ist, daß sie ein kleines Steinchen eines Mosaiks sind. Wer auffällt steht
außerhalb der geschlossenen Gruppe, wird gemieden. Ihre Individualität konnten sie gerade
mal in ihren eigenen 4 Wänden ausleben mit dem universellen Pseudo-Mahagoni-Wanderverbau, der
Sitzgarnitur, die im Prinzip genauso aussah, wie die vom Nachbarn, dem Fernseher und dem Auto auf
Kredit vor der Haustüre. Der Urlaub in Rimini war ein schwer erarbeiteter Luxus für den so
manche Ehefrau dann auch noch putzen gehen mußte. Aber üblicherweise blieb die Mutter bei
den Kindern zu Hause damit sie ordentlich lernen, sie hat ja sowieso nichts besseres gelernt und
hätte nur einem Familienernährer den Arbeitsplatz weggenommen.
Durch ihren eingeschränkten Blickwinkel pflegen sie auch genüßlich die kleinen und
großen Vorurteile, gar nicht bösartig, sondern als gemeinsames Zeichen der Gruppe, etwas
das als Smalltalk in der Gemeinschaft akzeptiert ist und daher nicht weiter überdacht werden
muß. Sie wollen auch bestimmt niemandem mit ihren Aussagen schaden. ...das ist eben so...,
...weiß doch jeder..., ...man redet ja nur so... :-/
Viele Menschen glauben, darunter sind auch leider einige SM'ler, sie müßten diese Menschen
aufrütteln, damit ihnen endlich die Augen aufgehen, damit sie sich entwickeln. Wenn das schon
nicht geht, dann muß man sie natürlich provozieren damit sie schockiert aus ihrem
Schneckenhaus heraussehen. Das soll dann auch noch lustig sein. Sorry! Ist es nicht! :-(
Diese Generation hat mit ihren eigenen Händen die Infrastruktur geschaffen, von der wir heute
leben. Natürlich sehen wir heute viele Dinge anders, als unsere Eltern noch vor 40 Jahren.
Man kann davon ausgehen, daß sie weder der Umwelt noch den nachfolgenden Generationen
absichtlich Schaden zufügen wollten. Sie haben das getan, was ihrer Meinung zur Erfüllung
ihrer Pflicht gehört hat, was gut und richtig war und ihren ethischen und moralischen
Vorstellungen entsprochen hat. Nicht mehr und nicht weniger.
Ich finde, daß niemand das Recht hat, diese Menschen vor den Kopf zu stoßen, sie zu
zwingen ihren Standort zu verlassen. Einen alten Baum verpflanzt man ja schließlich auch nicht.
Diese Menschen haben ein Recht darauf ihren Lebensabend ungestört zu verbringen. Wenn sie bereit
sind ihre Scholle der Uniformität zu verlassen, dann werden sie es tun, wenn nicht, dann
muß es uns auch recht sein.
Es ist an uns, die Ärmel aufzukrempeln und zu zeigen, wozu wir in der Lage sind, die
Alten haben das schon getan.
Es gibt jedoch auch viel ältere Menschen, die Zeit ihres Lebens kreativ, flexibel und tolerant
waren. Wenn sie nicht schwere Erkrankungen daran hindern werden sie es auch bis ins hohe Alter
bleiben und es wird für viele von uns Jungspunten eine sehr positive Erfahrung
sein sich mit ihnen auseinanderzusetzen.